Immer häufiger höre ich in letzter Zeit, dass es ADHS ja eigentlich gar nicht gibt, sondern dass diese angebliche Störung eine reine Erfindung der Pharmaindustrie sei. Nein, ich höre das nicht von Ärzten oder Therapeuten. Ich höre es von mir mehr oder weniger bekannten Leuten: Nachbarn, Freunde von Freunden, Eltern anderer Kinder aus der Kita. Meist, eigentlich immer, ungefragt. „ADHS – nur eine Erfindung der Pharmaindustrie?!“ weiterlesen
Schlagwort: ADHS
ADHS – Tabuthema Medikation
Kürzlich war ich auf einem Klassentreffen meiner alten Musicalschule in Hamburg. Mit einer ehemaligen Klassenkameradin unterhielt ich mich über unsere Kinder, es kam das Thema ADHS auf. Einer meiner alten Mitschüler, der die Konversation mithörte, warf belustigt ein, man solle ihm doch einfach Ritalin geben. Er meinte das als Scherz, als wäre es natürlich völlig absurd, es tatsächlich seinem Kind zu verabreichen. Damit sprach er etwas an, dass gerade unter Eltern (meist nicht Betroffener) als absolutes No-Go gehandelt wird: Wie kann man denn seinem Kind nur Medikamente geben?!
ADHS und die Gesellschaft
Die meisten Leute sind wie gesagt nicht selber betroffen, haben keine wirkliche Ahnung von dem Leidensdruck, dem sowohl ADHS-Kinder als auch ihre Eltern ausgesetzt sind. Ich habe ja nun schon öfter über das Thema ADHS geschrieben und gehe sehr offensiv damit um, allerdings war das nicht immer so: anfangs habe ich mich sogar etwas dafür geschämt, hätte es den anderen Eltern der Grundschulklasse meines Sohnes am liebsten verheimlicht, aus Scham und aus Angst davor, er würde dadurch vielleicht sogar von seinen Mitschülern, oder vor allem von deren Eltern, ausgegrenzt, wie er es selbst von seiner Lehrerin erfuhr, die ihn konsequent von allen außerschulischen Aktivitäten ausschloss, weshalb wir ihn schließlich von der Schule nahmen: „Den Carlos lädst du bitte nicht zu deinem Geburtstag ein, der hat ADHS. Wer weiß, ob der nicht völlig durchdreht/ alles kaputt macht/ bei Ermahnungen nicht auf uns hört/… .“ Unwissen schürt ja oft Angst. Angst vor dem Unbekannten. Das war schon immer so und ist wohl prinzipiell eher etwas Gutes, etwas das uns vor z.B. Angreifern oder anderen Feinden schützt. Beim Thema Kinder mit ADHS ist es aber gänzlich unangebracht, wenn auch vielleicht im ersten Moment nachvollziehbar. Klar würde ich auch lieber die braven Kinder bei mir zu Hause zu Gast wissen, als ein impulsives, hyperaktives, oft unberechenbar scheinendes Kind. Aber Ausgrenzung ist definitiv falsch und sogar kontraproduktiv. Mein Sohn macht oft „Quatsch“, um Aufmerksamkeit zu bekommen, um zu gefallen, um akzeptiert zu werden und letztendlich Freunde zu gewinnen. Das ist ein sehr sensibles Thema bei uns. Er ist jetzt 8,5 Jahre alt und hatte erst einen guten Freund, jedoch ist leider auch diese Freundschaft irgendwann im Sande verlaufen als er die Schule wechselte und sich die beiden nicht mehr sahen. Ich habe probiert, Kontakt zu halten, aber es war schwer, das vor allem auch zeitlich zu arrangieren. Andere Kinder orientieren sich schnell um, knüpfen neue Freundschaften, doch für meinen Sohn ist das nicht so leicht.
Der Leidensdruck ist groß
Nicht nur weil es meinem Sohn schwerfällt, Freunde zu finden, sondern weil er sich generell immer als „anders“ wahrnimmt, aber als anders im schlechteren Sinne. Er ist immer derjenige, der etwas nicht so gut kann (klar, weil er sich nicht konzentrieren kann), er ist immer derjenige, der den Unterricht stört und folglich ermahnt wird (klar, denn er ist impulsiv), er sieht sich oft als der, der immer Schuld hat. Selbst zu Hause bei Konflikten, wenn ich ihn frage, warum zum Teufel er denn jetzt wieder das oder das getan hat, äußert er Sätze wie „weil ich schlecht bin/ weil ich doof bin / weil ich scheiße bin“. Das tut mir weh, denn er ist absolut nicht doof oder „schlecht“. Er ist der liebenswerteste Junge, den ich kenne, das ist wirklich so. Er tut keiner Fliege was zu leide, hat einen super Humor und immer gute Laune – es sei denn es ist schon wieder zu einem Konflikt gekommen. Er hat ein sehr stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, ist sehr loyal, teilt stets alles was er hat, egal ob Süßigkeiten oder andere Dinge, gerecht auf und ist äußerst hilfsbereit. Seine Lehrer haben bei unserer letzten Konferenz sogar gemeint, er sei der intelligenteste Junge in seiner Klasse, nur stehe er sich selber im Weg, bzw. das ADHS stehe ihm im Weg, weshalb er diese Ressource nicht nutzen könne. Er könne sich maximal 10 Minuten am Stück konzentrieren, was trotzdem hängen bleibt sei erstaunlich. Was drin wäre, wenn man das Konzentrationsvermögen steigern könnte, undenkbar.
Medikation als Chance für die Kinder
Die Vorstellung, dass unser Sohn endlich einmal Erfolgserlebnisse haben könnte, sowohl was seine schulische Leistung wie auch seine sozialen Kompetenzen angeht, hat uns schließlich zu der Entscheidung gebracht, es doch noch einmal mit Medikamenten zu probieren. Wir hatten bereits vor ca. einem Jahr mit Medikinet (Wirkstoff: Methylphenidat) angefangen, jedoch waren die Nebenwirkungen es nicht wert, und so setzten wir es nach nur 2 Monaten wieder ab: Carlos litt unter Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, hatte Angstzustände und wirkte wie ausgeschaltet, teilweise sogar deprimiert. Wenn Eltern deshalb gegen Medikation sind, kann ich ihnen nur zustimmen, aber diese Nebenwirkungen sind von Kind zu Kind unterschiedlich. Die meisten vertragen ihre Medikamente sehr gut, und wenn nicht, dann kann und sollte man sie wieder absetzen. Selbstverständlich war die medizinische Behandlung nicht seine einzige Therapie: zusätzlich bekam Carlos Neurofeedback, eine Methode, mit der er mittels Sichtbarmachung der Gehirnströme mit Gedankenkraft, Dinge am Computermonitor bewegen konnte, so sollte er lernen, sich zu konzentrieren, und wie dies sich anfühlt, und er begann parallel dazu eine Verhaltenstherapie, die er immer noch macht. Außerdem hatte er endlich einen von nur 6 Plätzen an einer Schule, die auf Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten spezialisiert war, ergattert, auf die er nach den Sommerferien wechseln würde. So setzten wir das Medikinet schließlich ab. Alternative Medikamente wollten wir nicht, wir setzten die Hoffnung voll auf den Erfolg der anderen Therapien.
Medikation als letzter Ausweg
Wir wollten keine Medikamente mehr. Bis jetzt. Ein Jahr später haben wir nun wieder damit begonnen, diesmal Ritalin (der Wirkstoff ist zwar der gleiche wie bei Medikinet, aber die zusätzlichen Stoffe leicht anders, was laut Jugendpsychiater auch eine Auswirkung auf die Verträglichkeit haben könnte, außerdem sei unser Sohn ja jetzt auch schon ein Jahr älter, was dabei wohl auch eine Rolle spiele). Vorher fanden viele Gespräche mit seinen Lehrern und Erziehern statt, sowie mit seinem Kinder- und Jugendpsychiater. Der Leidensdruck war teilweise unerträglich: es gibt immer mal bessere und schlechtere Wochen, aber es wurde wieder so schlimm, dass wir es nicht mehr aushielten: Carlos drehte nur noch durch, hielt sich an keine Regeln, provozierte nur noch, hörte auf nichts mehr was irgendjemand sagte, war ständig unruhig, zappelig und steckte damit natürlich die ganze Familie an, trat die Tür seiner Schule ein, etc., etc. … Ich bin ab 15:00 alleine mit den Kindern, habe noch zwei kleinere Töchter (3 und 4), die mich vom Alter her eigentlich noch mehr bräuchten als Carlos (8), denen ich aber einfach nicht mehr gerecht werden konnte. Ich war nur noch mit Carlos beschäftigt, war nur noch am Schreien, was mir ein zusätzlich schlechtes Gewissen bescherte. Ich war einfach richtig fertig und graulte ich vor jedem Abend mit den Kindern; meist fing es schon im Auto, auf der Fahrt nach Hause an. Ich musste ihn nur irgendwie frustrieren, was sehr leicht war (beispielsweise, wenn wir mal nicht mehr Einkaufen fahren mussten, er das aber unbedingt wollte), und schon tickte er völlig aus, schrie herum, beleidigte mich, ärgerte die Schwestern. Nach einem Jahr haben wir schließlich keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als es doch noch einmal mit Medikamenten zu probieren. Häufig empfinden vor allem die Kinder selbst es als unglaubliche Erleichterung: Endlich ist der innere Drang weg, sich ständig neue Reize zu suchen, endlich können auch sie sich mal auf etwas konzentrieren, ohne dass sie die summende Fliege in der anderen Zimmerecke oder der Bagger auf der Straße (den „normale“ Kinder nicht einmal wahrnehmen) ablenken. Und, ja, endlich haben auch sie mal die Chance dazu, ihre Ressourcen voll auszuschöpfen und Erfolgserlebnisse zu machen. Schade, dass man sich in unserer heutigen Gesellschaft für solch eine Entscheidung (die sich wohl keine Eltern leichtmachen) so sehr rechtfertigen muss!
Zwei Seiten der Medaille: Verweigerung der Medikation als unterlassene Hilfeleistung?
Kann man die Verweigerung der Medikamentengabe nicht auch ganz anders werten, nämlich als unterlassene Hilfeleistung? Wenn ein Kind Bauch-, Kopf-, Zahnschmerzen, Fieber, Husten oder egal was hat, wird es sofort medikamentös behandelt, dann geben die Mütter gewissenhaft Hustensaft, Schmerz- und Fiebersaft und das ist alles gesellschaftlich vollkommen akzeptiert. Gibt man einem ADHS-Patienten aber Medikamente, löst das die wildesten Diskussionen aus. Heute bin ich auf einen Artikel in der FAZ aufmerksam gemacht worden, in der Prof. Dr. Andreas Reif, ein auf ADHS spezialisierter Psychiater, über das Thema schreibt („Rumzappeln ist kein Psychozeug“). Er hat mir eine ganz andere Ansichtsweise nähergebracht: er sagt nämlich, dass ADHS ganz eindeutig eine biologische Störung sei und leider viel zu viele Kranke unbehandelt blieben. Also statt den Einsatz von Medikamenten, allen voran Ritalin, zu verteufeln, sagt er ganz klar, dass es wichtig sei, mehr betroffene Kinder entsprechend früh damit zu behandeln, um das Risiko einzugrenzen, dass sie das ADHS auch ins Erwachsenenalter hinein begleitet. „Leider ist die Diskussion hier oft noch von Meinungen geprägt, da sich viele für berufen halten, etwas zu dem Thema beizusteuern – häufig allerdings ist die Lautstärke der Meinungsäußerungen zu der zugehörigen Evidenz umgekehrt proportional“, so Reif in dem Artikel.
Das hat mich natürlich in meiner Entscheidung bestärkt. Dennoch möchte ich mich jetzt keineswegs generell für oder gegen die Medikamentengabe bei ADHS aussprechen, ich möchte nur denjenigen, die dies tun, etwas zum Nachdenken geben bevor sie sich irgendwelche Urteile erlauben.
Mein Kind macht keinen Quatsch – Teil 2
OK, es hat erheblich länger als eine Woche gedauert bis zur Publikation vom 2. Teil von Mein Kind macht keinen Quatsch, aber dafür gibt es zahlreiche gute Gründe, auf die ich nächstes Mal näher eingehen werde. Jetzt möchte ich nur feierlich sagen: „I´m back!!!“
…und nun hier endlich Teil 2:
Mit der Einschulung öffnete sich dann aber ein anderes Kapitel: weder die Eltern der anderen Kinder, noch die Lehrer und schon gar nicht der Schulleiter hatten Verständnis für Carlos´ Verhalten oder unsere Situation. Ständig war das Mitteilungsheft voll (siehe Mein Kind macht Quatsch), bereits drei Wochen nach seiner Einschulung wurden wir das erste Mal zum Direktor geladen. Das allererste was er da (und überhaupt jemals) zu mir sagte, war: „Also, ich bin erstaunt, wie wenig erzogen Carlos ist!“ Das war schon wie ein Schlag ins Gesicht. Genauso gut hätte er sagen können: „Also, ich bin fassungslos, was für unfähige Eltern Sie sind!“ Wir erklärten unsere Sicht der Dinge und berichteten über frühere Konflikte in der Kindergartenzeit, uns wurden die Kontaktdaten des SPZ (wo wir ja eben bereits gewesen waren) und die eines Kinder-und Jugendpsychiaters gegeben, nach dem Motto „gehen Sie da mal hin und regeln das! Wir haben unsere Pflicht mit dem Hinweis an Sie jetzt getan.“
Die Einträge im Mitteilungsheft wurden nicht weniger. Ein paar Wochen später wurde eine Klassenkonferenz einberufen. Es wurde beschlossen, dass Carlos die Klasse wechseln soll, was mir nicht unrecht war, denn mittlerweile ging ich ihn nur noch ungern unter den Blicken der anderen Eltern vom Hort abholen. Aber auch in der neuen Klasse gingen die Probleme weiter, obgleich nicht ganz so heftig wie davor. Zu Hause wurde es jedoch umso schlimmer: er hörte gar nicht mehr, schrie mich nur noch an, beleidigte mich aufs wüsteste und bekam richtige Wutanfälle, aus denen er dann bis zu 30 Minuten nicht herauskam und unaufhörlich schrie. Auch ich, völlig überfordert mit allem (habe ja selber schon genug um die Ohren mit der alzheimerkranken Oma, meinem Studium, meinem Job, damaligen Problemen in der Partnerschaft und meinen beiden jüngeren Töchtern, da gerade mal 1 und 3 Jahre alt, mit denen ich ab 15:30 quasi alleinerziehend war, denn Schatzi fängt um 16:00 an zu arbeiten), war nur noch am Schreien – und, ja, ein/zwei Mal ist mir sogar die Hand ausgerutscht. Drei Mal suchte ich in dieser schweren Zeit die Erziehungsberatung auf, die mir aber, abgesehen für das entgegengebrachte Verständnis für meine Situation, auch nicht wirklich weiterhelfen konnte.
Im Dezember wurde beschlossen, dass Carlos von nun an verkürzten Unterricht erhalten solle, da er sich bereits ab der dritten Stunde so gar nicht mehr konzentrieren konnte und „einfach durch“ war. Natürlich stimmten wir zu. Außerdem schlug man uns das „Re:tour-Programm“ für ihn vor: „Verhaltensauffällige“ Kinder werden in Kleinstgruppen von 6 intensivst von mehreren Pädagogen beschult und erhalten zudem im gleichen Rahmen Ergotherapie, etc… Nachdem sie in ein bis maximal zwei Schuljahren gelernt haben, wie man sich in der Schule verhält und lernt, kommen sie wieder auf die Regelschule zurück (daher „retour“). Das hörte sich nicht schlecht an… Und verlockend war auch der Gedanke, nicht ständig Angst wegen Carlos´ Verhalten zu haben, denn dort würde er ja genau wegen diesen Problemen aufgenommen.
Zeitgleich entwickelte er endlich den für ihn so wichtigen Kontakt zu seinen Mitschülern. Er schloss Freundschaften, baute sich seine kleine Clique auf (die nicht nur Quatsch machte), insbesondere zu einem Jungen entwickelte sich eine Freundschaft, die übrigens bis heute anhält. Das hatte er davor noch nie! Und auch im Mitteilungsheft stand nichts sein Verhalten Betreffendes mehr (nur noch Organisatorisches, und dass er seine Stifte besser anspitzen sollte). Im Februar gab es dann eine weitere Konferenz, allerdings nicht wegen weiterer Vorfälle, sondern einfach um den Status Quo, auch was das Re:tour-Programm anging, zu besprechen. Mein Eindruck täuschte nicht: Carlos´ Verhalten hatte sich laut dem Horterzieher wirklich verbessert. Aber die Lehrerin, für die er bereits unwiderruflich den Stempel des „Troublemakers“ auf der Stirn hatte, und anscheinend nur noch die Wochen bis zum möglichen Re:tour-Programmbeginns zählte, bis sie ihn endlich los war, wollte das nicht so recht zugeben. Auf meine Bedenken hin, ihn jetzt wirklich in das Re:tour-Programm zu geben, ihn jetzt WIEDER aus der Klasse zu nehmen, gerade wo er endlich angekommen war im Schulalltag, in der Klasse, Freunde hatte und sich wirklich bemühte, „lieb“ zu sein, entgegnete sie nur, herumdrucksend, dass man ja nicht wirklich sagen könne, dass sich sein Verhalten echt gebessert hatte, weil er ja eben nur verkürzt in die Schule ginge, und eben auch nur eine Hofpause mitmache (Hofpause=Konfliktpotenzial) und auch nach den Winterferien eine Woche krank war, und, und, und,… Da vor den Osterferien eh kein Platz bei Re:tour frei werden würde, beschloss ich also erst einmal abzuwarten, wie sich mein Sohn in der Schule weiter entwickeln würde. In der Zwischenzeit sollten wir beim Jugendamt einen Integrationsstatus und einen extra Horterzieher für ihn beantragen.
Er blieb „lieb“ (also für seine Verhältnisse – aufgedreht und schnell abgelenkt wird er wohl immer sein), behielt seine Freundschaften, den Kontakt zu den anderen Kindern und fühlte sich eigentlich recht wohl in der Klasse, wenn da eben nicht seine Klassenlehrerin gewesen wäre, die ihn stets und ständig von jeglichen Aktivitäten ausschloss. Der für mich ausschlaggebende Punkt, ihn aus der Schule zu nehmen, war dann der Waldlauf: schon Wochen vor dem Termin erzählte Carlos von dem Waldlauftraining, das die Sportlehrerin mit seiner Klasse im Sportunterricht abhielt. Er belegte immer einen der ersten drei Plätze und war mächtig stolz. In einer Rundmail teilte die Lehrerin den Eltern der Klasse mit, dass die Kinder sich am Waldlauftag um 7:45 auf dem Hof einfinden sollen, von da aus würden sie dann gemeinsam zu dem Ort gehen, an dem der Waldlauf stattfinden sollte. Umso verwirrter war ich, als mich der Sonderpädagoge der Schule (nicht mal die Lehrerin persönlich!) einen Tag vorher anrief und mir mitteilte, dass ihn die Lehrerin gebeten hatte, uns noch einmal Bescheid zu geben, dass wir Carlos „morgen dann bitte erst um 11:00 in die Schule bringen sollen“, davor fände ja der Waldlauf statt.
… WHAAATT??!! Da hatte er sich doch schon so lange drauf gefreut! Ich war kurz davor auszuflippen, was eigentlich vor Lehrern, Erziehern und dergleichen nicht meine Art ist, aber in dem Moment war ich so geschockt, frustriert, enttäuscht, verletzt und vor allem aber richtig sauer! Der Pädagoge ließ durchscheinen, dass er ja eigentlich auch meiner Meinung wäre, und druckste herum, dass er nur das, was die Lehrerin sagte, weiterleite und da halt nichts tun könne, etc., etc.,.. Abends rief mich dann die Lehrerin an, anscheinend hatte der Pädagoge ihr meine Aufregung und mein Unverständnis über ihre Entscheidung mitgeteilt. Ich erklärte ihr zwar meine Frustration darüber und sagte ihr, wie sehr sich Carlos auf den Tag gefreut hatte. Auf die Frage, warum er denn nicht mitmachen dürfe, meinte sie nur, dass er ja nicht auf sie höre und sie Angst habe, dass er auf dem Weg wegrennen könnte. Seltsamerweise änderte sich ihre Einstellung aber auch nicht, nachdem ich anbot, Carlos morgens persönlich mit dem Auto zum Waldlauf zu fahren…
In dem Moment wurde mir schlagartig klar, dass ich meinen Sohn da rausholen musste – und dass eine „jetzt-bleibt-er-erst-recht“-Taktik die Lehrerin vielleicht ärgern, im Endeffekt aber nur ihm selbst schaden würde! Und so entschieden wir uns schließlich FÜR das Re:tour-Projekt.
Mittlerweile geht Carlos seit drei Wochen in die neue Schule und es gefällt ihm gut. Die Pillen (Medikinet 20 mg retard) haben wir übrigens mit der Entscheidung für Re:tour abgesetzt – die positiven Effekte haben die negativen Begleiterscheinungen (Appetitlosigkeit, Einschlafprobleme, Unausgeglichenheit, Niedergeschlagenheit, …) nicht wettgemacht. Aber wenn er nun in eine Schule geht, die auf „verhaltensauffällige“ Kinder spezialisiert ist, in der 4 ausgebildete Pädagogen auf maximal 6 Kinder kommen, und er außerdem noch eine Verhaltenstherapie macht (nach einem Dreivierteljahr sind nun endlich Therapeutensuche, Vorgespräche und Bewilligung der Krankenkasse durch!!), sollte das doch eigentlich reichen! …Zumal wir ihn ja gar nicht so gestört finden… 😉 „Mein Kind macht keinen Quatsch – Teil 2“ weiterlesen
Mein Kind macht keinen Quatsch – mein Kind hat ADHS!!!
…ok, es macht natürlich schon Quatsch, sogar oft und viel, aber die Ursache dafür ist nicht etwa, dass es böse oder unerzogen ist, sondern dass es wirklich eine neurologische Störung hat. Im Dezember letzten Jahres wurde nun endlich das diagnostiziert, was wir eigentlich schon immer vermutet hatten: Carlos hat ADHS, ganz eindeutig, wie der Arzt meinte.
Die Diagnose ging über mehrere Termine, drei, glaube ich. Bei denen wurden mit ihm allerhand Spiele und Tests gemacht und im Endeffekt kam dann eben das heraus, was wir schon immer ahnten: ADHS. Komischerweise war die erste Reaktion Erleichterung, obwohl bei unserem Kind gerade eine Krankheit diagnostiziert wurde, aber endlich wusste ich, dass sein Verhalten weder normal (und ich nur völlig unbelastbar) noch meine Schuld, bzw. die meiner Erziehung war.
In einem früheren Gespräch mit der leitenden Kinderpsychiaterin aus dem SPZ (Sozialpädagogisches Zentrum) wurde uns auf unseren geäußerte Verdacht auf ADHS hin entgegnet, dass das ja gar nicht sein könne, da Carlos ja gerade so wunderbar ruhig im Hintergrund Playmobil gespielt hätte. Ja, das tat er auch, jedoch meinte der Arzt, der nun eben ADHS bei Carlos diagnostiziert hat, dass selbst Kinder mit ADHS sich sehr wohl für einen Zeitraum auf etwas das ihnen Spaß macht, konzentrieren können, und das also kein Gegenargument oder gar Ausschlusskriterium sei.
Wir wurden damals übrigens vom Kindergarten aus erstmals zum SPZ geschickt, weil Carlos gebissen und generell einfach ständig gestört hatte; da war er gerade einmal 3 Jahre alt. (Die Diagnose ADHS darf übrigens offiziell erst ab 6 Jahren gestellt werden.) Nach dem Gespräch mit der besagten Psychiaterin sollte nun entschieden werden, wie man Carlos am besten helfen könne. Er durchlief sowohl Tests bei der Logopädin wie auch bei einer Ergotherapeutin. Im Endeffekt entschied die Psychiaterin; also die, die ihn so ruhig beim Spielen erlebt hatte. Sie meinte, dass wohl eine Logopädin ihm am besten helfen könne, da bei ihm aufgrund der Zweisprachigkeit (Papa ist wie gesagt Spanier) sein Wortschatz noch nicht so ausgeprägt wie bei gleichaltrigen Kindern wäre, und er sich dadurch anscheinend mehr durch sein auffälliges Verhalten als verbal zu verständigen vermochte.
Klang einleuchtend, und so probierten wir es brav aus. Er ging fortan also wöchentlich zu einer Logopädin, in der Tat erweiterte sich sein Wortschatz, doch an seinem Verhalten änderte sich…. Tja, also eben rein gar nichts…
Bei unserem jährlichen Spanienurlaub bei der Familie wurde es sogar noch schlimmer. Carlos drehte regelrecht auf, wie ein junger Hund. Je mehr Leute kamen, desto mehr musste er sich durch sein unpassendes, auffälliges Verhalten profilieren. Es war so schlimm, dass ich den Entschluss fasste, ihn nach dem Urlaub doch zu einer Ergotherapie zu schicken. Ich hatte echte Hoffnung in die Therapie. Nun würde er endlich ruhiger werden, weniger Konflikte in der Kita verursachen und wir dadurch weniger mit den Erziehern und anderen Eltern haben. Alles würde sich normalisieren.
Was soll ich sagen?… er ging gerne in die Therapie, einmal die Woche, spielte, turnte und bastelte dort mal mehr, mal weniger begeistert mit, aber an seinem Verhalten änderte sich rein gar nichts.
Die Probleme in der Kita gingen weiter. Ich graulte mich vor Elternabenden, weil mir das Verhalten meines Sohnes den anderen Eltern gegenüber unangenehm war. Noch unangenehmer als die Hilflosigkeit (was soll ich denn bitte tun, wenn die Erzieher mich beim Abholen sprechen wollen und mir berichten, wie aufgebracht die Mutter von XY war, weil Carlos ihr Kind wieder einmal gebissen/ geschlagen/geärgert hatte), war der Zwiespalt in dem ich mich (teilweise bis heute) stets befand: einerseits kennst du dein Kind, weißt um seine „Eigenheiten“, und heißt vieler seiner Ausbrüche und Reaktionen natürlich nicht gut, gleichzeitig willst du es aber auch verteidigen, denn eines ist klar: völlig ohne „Grund“/ Auslöser wird er XY ganz sicher nicht gebissen/ geschlagen/geärgert haben, dennoch ist natürlich klar, dass das Verhalten, das es an den Tag legt gelegt hat) inakzeptable ist, aber man muss, finde ich immer, den Gesamtkonflikt sehen. Was war das für eine Situation aus der der Konflikt entstand? Ein Kind, gerade eines mit ADHS, kann in einer Konfliktsituation nämlich nicht reflektieren, innehalten und cool bleiben und das jeweilige Problem ausdiskutieren, ein Kind, gerade eines mit ADHS, wird in einer Konfliktsituation auch nicht sofort den nächsten potenziellen Streitschlichter/ Konfliktlöser (also einen Erzieher oder Lehrer oder die Eltern) aufsuchen. Nein, ein Kind, vor allem eines mit ADHS, wird in den allermeisten Fällen impulsiv und unüberlegt reagieren und dabei womöglich über die Stränge schlagen, weil es seine eigenen Grenzen, Stärke und die der anderen eben nicht adäquat einzuschätzen vermag, weil sein Nervensystem eben nicht dazu in der Lage ist, Reize, die entsprechende Gefühle auslösen, adäquat zu filtern. So wie bei Babys, die genauso sehr weinen, wenn ihnen die Mama wegläuft, wie wenn jemand ihnen ihren Schnuller klaut. Durch den ständigen Dopaminmangel im Gehirn stürmen die Reize ungefiltert auf das Kind ein und können nicht richtig verarbeitet werden. Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung führt dies dazu, „dass es den Kindern schwerfällt, ihren Bewegungsdrang, ihre Gefühle und ihre Aufmerksamkeit zu kontrollieren. Aus diesem Grund spricht man von einer verminderten Fähigkeit zur Selbststeuerung“. Ein ADHS-Kind reagiert also weitaus empfindlicher und konsequenterweise auch umso stärker auf die stärker gefühlten Reize. Dieses Nicht-Filtern-Können der jeweiligen Reize, die ja ständig auf uns einprasseln, führt auch zu der überaus leichten Ablenkbarkeit dieser Kinder und der Konzentrationsschwäche, sprich, dem „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“. Kommt dann noch die Hyperaktivität hinzu, ist das Chaos perfekt! 😉
Tragisch sind auch die möglichen Begleiterscheinung des ADHS für die Kinder: da oft ihre (fein-)motorischen Fähigkeiten nicht so ausgeprägt sind wie die der anderen Kinder, und es natürlich am nötigen Konzentrationsvermögen hapert, können sie viele Aufgaben nicht in der gleichen Qualität lösen wie ihre gleichaltrigen Mitschüler/“Mitkindergartenkinder“, obwohl sie von der Intelligenz dazu eigentlich sehr wohl in der Lage wären (die ist nämlich genau wie bei dem „normalen“ Durchschnittskind ohne Verhaltensauffälligkeiten), und ab und zu kratzt das natürlich dann auch am Selbstbewusstsein und kann sich sogar aufs Selbstwertgefühl auswirken. Bei meinem Sohn kam hinzu, dass er auch noch der jüngste in seiner Kita-Gruppe war. In der Gruppe waren nur Kinder, die 2008 geboren waren, er aber ist im Januar 2009 geboren, durfte also gerade noch mit hinein (es war der einzig freie Platz in seiner Altersstufe als wir einen Kitaplatz gesucht hatten). Eine weitere drohende Begleiterscheinung von ADHS-Kindern ist die Außenseiterrolle: da sie (gefühlt) immer ärgern und oft überreagieren, möchte niemand mit ihnen spielen und sie werden ausgegrenzt. Ich kann mich besonders an eine Situation mit meinem Sohn erinnern in der er nach dem Kindergarten anfing zu weinen und mir sagte, er wolle nicht mehr dorthin gehen (er hat übrigens nie gefremdelt, ging stets mit Begeisterung in die Kita und versteckte sich regelmäßig als ich oder sein Papa ihn von dort abholen kamen, weil er nicht mit nach Hause, sondern lieber weiterspielen wollte), weil alle ihn dort ärgern und keiner „sein Freund“ sein will. In einem Gespräch mit seiner Erzieherin verriet diese mir, dass er sich (von sich aus- was er sonst nie tat!) im Morgenkreis meldete und sagte, dass er einen Freund haben möchte und traurig ist, dass nie jemand mit ihm spielen wolle und alle ihn immer ärgern würden. Ich konnte in dem Moment meine Tränen nicht mehr zurückhalten (sie übrigens auch nicht), so leid tat mir mein Kleiner (damals gerade mal 4 Jahre alt). Da die Gruppe aber größtenteils aus tollen, verständnisvollen Eltern (und Erziehern) bestand, wurde er niemals ausgegrenzt, durfte immer an allen Gruppenaktivitäten (Ausflügen, etc…) teilnehmen und wurde auch zu einigen Geburtstagen eingeladen.
Als die 2008er Kinder dann eingeschult wurden, kam er in eine altersgemischte Gruppe in der gleichen Kita. Anfangs war ich nicht begeistert, aber erstaunlicherweise erging es ihm da viel besser. Er war nun der älteste seiner Gruppe, die Kleineren schauten zu ihm auf, er konnte beeindrucken und hatte Freunde. Da er sehr einfallsreich und kreativ ist und immer die „besten“ Spielideen hatte, wollten alle mit ihm spielen. Sein neuer Erzieher und er verstanden sich auch super (bis heute), er war wirklich entspannt. Natürlich gab es auch in dieser Gruppe mal Probleme mit ihm, jedoch immer wenn mir der Erzieher davon berichtete, tat er es stets mit einem Augenzwinkern und der Bemerkung („…pero son niños“ – „Kinder halt…“).
Mit der Einschulung öffnete sich dann aber ein anderes Kapitel… Fortsetzung folgt nächste Woche!