Früher war doch alles besser – oder? Naja, vielleicht nicht besser, aber doch weitaus entspannter: da sind die Kinder ab der ersten Klasse alleine zur Schule gelaufen (manche sogar schon alleine zur Vorschule!). Das war normal. Heutzutage wird man schief angeguckt, wenn man seine Kinder nicht bis mindestens zur dritten Klasse bringt und abholt. Früher war „Freispiel“ normal. Heutzutage macht man sich schon Gedanken, ob man sein Kind nicht vernachlässigt, wenn es nicht mindestens einem Hobby (im Verein versteht sich) nachgeht. Einfach machen lassen? Einfach mal treiben lassen? Geht gar nicht. Struktur ist angesagt und Disziplin und die maximal beste Vorbereitung, die man seinem Kind nur auf seinem Weg ins Leben mitgeben kann – das ist ja grundsätzlich richtig, die Frage ist nur, ob die Methoden es sind.
Neulich hatten wir ein kleines Wiedersehen mit unserer früheren Grundschullehrerin, mit der wir in alten Zeiten schwelgten. Dinge, die heute völlig undenkbar sind, waren damals normal: Wer beispielsweise seine Hausaufgaben zum x-ten Male in der Schultasche nicht „fand“, dem wurde sie ausgekippt, um beim Suchen zu „helfen“ – ohne, dass die Eltern des betreffenden Kindes daraufhin sofort zum Direktor rannten; im Sommer waren wir mit der Klasse mal auf einem Ausflug; es war sehr heiß. Wir wollten uns auf einem Platz, auf dem gerade der Rasen gesprengt wurde, abkühlen, hatten aber keine Badesachen dabei, und so ließ uns unsere Lehrerin einfach nackig unter den Rasensprenger hüpfen. Das war völlig normal und überhaupt kein Anlass zur Sorge, auch nicht für unsere Eltern, denen wir natürlich freudig davon berichteten. Man stelle sich die Gesichter der Eltern dazu heute einmal vor, wenn sie erfahren, dass eine Lehrerin Zweitklässler nackt in aller Öffentlichkeit unter einem Rasensprenger toben lässt. Die Arme kann sich nach einem neuen Job umsehen.
Helikopter und Handys statt eigene Erfahrungen machen und ausprobieren lassen
Kinder werden heute viel mehr kontrolliert als früher. Ich bin ein Kind der 80er Jahre, morgens hat meine Mutter mich rausgelassen und abends um 19:00 wieder rein – und das in einer Großstadt wie Berlin. In der Zeit dazwischen durfte ich mit meinen Freunden spielen, war frei, selbstbestimmt. Ich hatte nie Langeweile, bin mit meinen Freunden oft über den Zaun des geschlossenen Kindergartens geklettert und habe dort auf dem tollen, riesigen Spielplatz gespielt, wir haben auf dem Hof Höhlen gebaut, teilweise aus den alten, kaputten, ausgesonderten Möbelstücken unserer Nachbarn (nicht auszudenken, was da für Bakterien drin gesteckt haben müssen!), wir haben uns Geschichten ausgedacht, waren unbekümmert, frei und hatten Spaß. Und das ohne Handy! Meine Mutter hatte quasi nie eine Ahnung, wo ich gerade war, und sie konnte mich auch schlecht kontrollieren. Klar, wäre etwas passiert, hätte ich auch nicht anrufen können, aber es ist nie etwas passiert – jedenfalls nie etwas Schlimmes. Und auch heute passiert statistisch betrachtet nicht mehr als vor dreißig Jahren, weniger übrigens auch nicht – trotz Handys und Helikopter-Eltern, aber wenn etwas passiert, bekommt man es mehr mit! Durch die ganzen (sozialen) Medien verbreiten sich Kindesentführungen/ Missbrauchsfälle und andere Gräueltaten aber viel schneller und weitreichender als früher, wo es lediglich Radio, Zeitungen und die TV-Nachrichten zu einer bestimmten Uhrzeit gab. Heute ist alles rund um die Uhr zugänglich, wodurch solche Verbrechen automatisch präsenter werden, und wir den Eindruck bekommen, die heutige Welt sei unsicherer geworden.
Wir setzen uns selbst unter Druck und scheitern an unseren eigenen, zu hohen Erwartungen
Ich lasse meine drei Kinder oft freispielen (hieß das zu unserer Zeit nicht einfach nur „spielen“?), im Haus oder im Garten. Aber im Gegensatz zur Generation meiner Mutter, habe ich dabei stets ein schlechtes Gewissen: Sollte ICH die Kinder jetzt nicht besser irgendwie pädagogisch wertvoll beschäftigen? Ihnen etwas anbieten? Mit ihnen basteln? Batiken? Englisch lernen? Ihnen etwas vorlesen? Oder wenigstens Kochen und Backen? Ich bin so unentspannt, meine Erwartungen an mich selbst, gerade was die Erziehung meiner Kinder angeht, sind so hoch, dass ich täglich daran scheitere und mich dann noch unfähiger fühle. Die überzogenen, teilweise unrealistischen Erwartungen was die Kindererziehung angeht, sind also teilweise selbst auferlegt, und teilweise entstehen sie durch eine Art Gruppenzwang, weil man ja Familie XY in nichts nachstehen möchte. Man setzt sich also selbst unter Druck, ähnliches zu leisten, ungeachtet der äußeren Umstände, die dabei nicht berücksichtigt werden. (Die Burn-Out-Rate unter Müttern ist nicht umsonst in den letzten 10 Jahren um fast 40% gestiegen!)
Familie als Statussymbol?
Nichts ist wohl so persönlich wie die eigene Familie, nichts so angreifbar wie der eigene Erziehungsstil. Da ist man am verletzlichsten, und so möchte man im Vergleich mit anderen natürlich besonders gut dastehen. Wo ein bisschen vergleichen ja durchaus normal ist, wird Wettbewerb heute ganz großgeschrieben. Das war früher sicher nicht anders, aber statt seine Erziehungsmethoden zu vergleichen, hat man sich mit anderen an der Größe des Autos/ Hauses / Fernsehers gemessen. Ist Familie also zu einer Art Statussymbol geworden? Generell wäre eine Verbesserung ihres Stellenwerts ja durchaus zu begrüßen, aber wie so häufig arten Vergleiche und Wettbewerb schnell in Egoismus und falschem Stolz der Eltern aus, in dem sie auch begründet liegen. Kind A macht Capoeira und geht in eine bilinguale Kita? Dann muss UNSER Kind das auch! Die wahren Interessen des Kindes bleiben dabei oft unberücksichtigt.
Ein Plädoyer für mehr Entspannung!
Machen wir uns das Leben doch einfacher. Lassen wir unsere Kinder doch einfach mal machen und spielen und tun, worauf sie Lust haben. In dieser Freispielzeit können ja auch WIR mal tun was wir wollen: telefonieren, eine alte Folge Sex & the City schauen (oder Netflix) oder sonst einem Hobby nachgehen. Man muss nicht jedes Wochenende komplett mit Ausflügen und Aktivitäten fürs Kind vollstopfen, sondern kann es sich auch einfach mal zu Hause gemütlich machen. Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, nächstes mal wieder etwas zu malen. Und was habt Ihr so vor? Ooooooohhhhhmmmmmm….